Annehmen –
Schlüssel zur
Veränderung

Erkenntnisse von einem internationalen
Retreat für Pionier*innen des Wandels

Catalina sitzt mir gegenüber und weint.

In ihrer Heimat Kolumbien hat sie eine Bewegung von vor allem jungen Friedensaktivist*innen gegründet und zehntausende Menschen inspiriert und mobilisiert. Erst kürzlich hat sie mit hochrangingen Vertretern der Guerilla und anderen Parteien einen Meditationsworkshop geleitet.

Jetzt sitzt sie mir gegenüber auf einem Stuhl im Seminarraum vom „Knappenhof“ unterhalb der Rax, dem höchstem Berg in Niederösterreich. Gemeinsam mit Social Entrepreneurs und Pionier*innen aus Südafrika, Indien, dem Libanon und anderen Teilen der Welt.

Innere Arbeit für Gesellschaftswandel

Wir sind eingeladen von internationalen „Wellbeing Project“ (ich schrieb bereits einen Artikel über „Wellbeing inspires Welldoing“). Diese Initiative hat zum Ziel, die Kultur im „Social Change“-Sektor zu verändern und der „inneren Arbeit“ mehr Bedeutung zu geben.

Denn die Qualität der Beziehung zu uns selbst hat enormen Einfluss darauf hat, wie wir in der Welt wirken.

Ich habe also das Glück, eine Woche lang eingeladen zu sein zu einem internationalen Retreat. Wir werden begleitet von einem hochkarätigen Team, arbeiten eine Woche lang mit Gestalt-Therapie, Schattenarbeit und vor allem Aufstellungsarbeit.

Aufstellungen – Seelische Bewegungen sichtbar machen

Kennst du Aufstellungen? Wenn nicht, dann kannst du es vermutlich nicht nachvollziehen, was man alles spüren kann und welche Einsichten man bekommt, wenn man in einer Aufstellung Menschen repräsentiert, die man nie zuvor gesehen hat. Aufstellungsarbeit lässt uns eine Ebene erfahren, die konventionelles Weltbild spektakulär überschreitet und (wenn gut angeleitet) sie ist extrem hilfreich, um Problematiken zu bearbeiten und Lösungsbilder zu erleben.

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Seit Tagen machen wir also Aufstellungsarbeit mit Judith Hemming, einer wirklichen Meisterin dieses Faches, die mit ihren 72 Jahren aussieht wie ein weiblicher Gandalf. Sie wurde uns vorgestellt als internationale Koryphäe, ich liebe ihren trockenen britischen Humor und ihr großes Herz.

Vielleicht die wichtigste Erkenntnis dieser Tage für mich …

Was mich in diesem internationalen Kreis besonders bewegt: wie sehr unser kollektives Erbe von Kriegen und Vertreibungen auf uns wirkt, auf unsere Familien und unsere Schicksale.

Wie wichtig es ist, die eigene persönliche und familiäre Basis zu „heilen“, um effektiv und wirklich gesund in der Welt wirken zu können.

Und wie sehr wir alle verbunden sind in unserer Menschlichkeit, wie sehr wir uns in Geschichten der anderen wiederfinden können …

  • Ich habe gespürt, wie sehr der jüdische Genozid in der Großeltern-Generation auf H. wirkt und was er in seinem Leben versucht hat für seine Eltern zu kompensieren.
  • Ich habe gesehen wie sehr für X. das Aufwachsen in den postkolonialen Strukturen in Südafrika zu einem unbewussten Schuldgefühl und einem Gefühl von Heimatlosigkeit führte.
  • Ich selbst habe gelernt, wie mein „Weltverbesserungs-Antrieb“, der mich immer wieder an meine Grenzen treibt, zusammenhängt mit dem unbewussten (illusorischen) Drang, Kriegstaten meiner Großväter-Generation „wieder gut zu machen“.

Und so haben wir (auch) viel geweint in dieser Woche. Catalina und ich sind Freunde geworden, so vieles in unseren Geschichten verbindet uns in unserer Menschlichkeit über alle Kontinente hinweg.

Noch eine wichtige Erkenntnis …

Burning the bridges“ – das ist eine Haltung von vielen PionierInnen, die ihre Verbindung zu Altem (wie Familienbanden) durchbrechen, um etwas Neues aufzubauen (siehe zB. die faszinierende Doku über die Anhänger von Osho / Baghwan, die in diesem Sinne eine neue Welt aufbauen wollten).

Nach diesen Tagen am Knappenhof ist mir noch mal deutlicher geworden, dass so etwas nicht funktionieren kann: sich abzuspalten vom Ungeliebten, zu sagen „das Alte ist mir egal, ich gehe völlig unabhängig davon meinen Weg“.

Mir wurde deutlich: Wenn wir etwas oder jemanden in einem System ausschließen, das Leid negieren und einfach nicht hinschauen – dann ist es nicht weg, sondern andere im System bringen es in Erinnerung.

Deshalb: Hinschauen, annehmen, würdigen. Dann kann sich auf tieferer Ebene etwas verändern.

Hinschauen und würdigen auf einer persönlichen Ebene …

Wer waren meine Vorfahren? Welche Muster von ihnen leben in mir weiter? Welches Leid wurde in meiner Familie ausgeblendet? Wie kann ich das Verdeckte an das Licht des Bewusstseins bringen? Und die damit verbundenen Emotionen durch mich durchziehen lassen, auf dass mein „emotionaler Rucksack“ leichter werde?

Ein extremes Beispiel für Hinschauen, Annehmen und Würdigen ist für mich die Geschichte von Jo Berry und Pat McGee. Pat hat ihren Vater, einen britischen Parlamentarier, getötet bei einem IRA-Bombenanschlag. Jo hat hingeschaut und trotz des unglaublichen Traumas ihn kennen gelernt, sich um Verständnis bemüht. Pat hat hingeschaut, sie sind Freunde geworden – ich hab sie 2005 getroffen und ihre Geschichte hat mich tief berührt (Mehr unter https://www.theforgivenessproject.com/jo-berry-patrick-magee)

Hinschauen und würdigen auf einer kollektiven Ebene …

Kriegsunrecht braucht oft Generationen, um nach anfänglichem Wegschauen wirklich gewürdigt zu werden. Bei Aufstellungsarbeit wird deutlich, wie sehr das Verdrängte beeinträchtigend wirkt auf uns Menschen, die „gar nicht dabei waren“. Und deshalb ist es auch hier wichtig: Hinschauen und würdigen.

So dankbar bin ich dazu den Friedensarbeiter*innen aus aller Welt – wie Catalina in Kolumbien oder der Parent’s Circle in Palästina – die ein Hinschauen und eine Verbindung zwischen Opfern und Tätern ermöglichen.

Sehr berührt hat mich auch Aaron Huey, ein National Geographic Journalist, den ich ebenfalls vorige Woche kennen lernen durfte. Er hat hingeschaut bei den Nachkommen Lakota / Siuox – selten so einen traurigen Ted-Talk gehört wie diesen. Aber gleichzeitig tut dieses Hinsehen auch gut, ist so wichtig!

Herausragend ist bei der Arbeit mit kollektiven Traumata aus meiner Sicht die Arbeit von Thomas Hübl mit dem Pocket Project.

So viele Initiativen und Methoden machen mir Mut, meinen eigenen Anteil an „innerer Arbeit“ zu vollbringen.

Was denkst du dazu? Was bewegt dich dazu?

Martin Kirchner ist Mitgründer der Pioneers of Change in Österreich