Brücken bauen zu Andersdenkenden in Zeiten von Corona

Teil 3: Grenzen erkennen und Selbstfürsorge üben

Dieser Beitrag ist der vorerst letzte Teil zum Thema.
Teil 1: Ein Riss geht durch die Gesellschaft – was können wir tun.
Teil 2: Anders zuhören – Leitfaden für gegenseitiges Verstehen.
Tipp: auch die zahlreichen Kommentare sind es wert gelesen zu werden.

 

Wo ist eigentlich die Grenze?

Müssen wir jedem und jeder Andersdenkenden empathisch entgegentreten? Können wir immer Brücken bauen und ist das überhaupt als Prinzip in jedem Kontext sinnvoll?

In diesem Beitrag geht’s um Grenzen – persönliche und gesellschaftliche Limitierungen des Brückenbauens. Und ich sag es auch hier noch mal: ich bin ein Forschender, der dieses Thema zur Diskussion stellen will und sich auf die kollektive Weisheit in den Kommentaren freut. Es gibt so viele Facetten dieses Themas… ich bin gespannt!

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„Wege in die Zukunft“.

Mit Rechten redet man nicht?

Anlässlich der Corona-Demos in Berlin hab‘ ich gelegentlich gehört „mit Rechten redet man nicht“. Diese Art von Abgrenzung ist symptomatisch für viele Bereiche.

Lasst uns fragen: Was wird durch so eine pauschale Haltung bewirkt? Inwieweit können wir Verständnis entgegenbringen und Brücken bauen – und wann und wie sollten wir wirklich eine Grenze ziehen?

Ich hab gelesen: „Wir haben bereits mit einer Haltung des „wir müssen die Ängste der Menschen ernst nehmen“ mitnichten die Pegida-isierung der Gesellschaft über die letzten zehn Jahre verhindern können.“

Aber haben „wir“ richtig hingehört? Ich hab‘ immer noch das Gefühl, dass sich so viele Menschen gerade mit ihren Anliegen NICHT gehört und gesehen fühlen. Und dass das „Ängste ernst nehmen“ auch nur eine Phrase ist.

Wer will schon Schatten?

Wir können Menschen und deren Anliegen nicht einfach „wegmachen“, so wie ich auch bei meinen eigenen „Schatten“ oder Ängsten nicht so tun kann, als wären sie nicht da. Erst wenn ich richtig hinschaue, können sie sich verändern.

Cristina hat in einem Kommentar zum Teil 1 dieser Serie die Frage gestellt „Was wollen wir vermeiden?“– und die finde ich hochspannend in diesem Zusammenhang.

Wenn wir es schaffen, mit Andersdenkenden in einen tieferen Dialog zu treten, dann können wir Erkenntnisse gewinnen und kann sich etwas verändern (siehe dazu die Vier Arten des Zuhörens nach Scharmer im Teil 2).

Ein Extrembeispiel

Meine mutige Kollegin Stephanie vom Pioneers-Team hat mal einen Stammtisch der „rechts-patriotischen“ Identitären in Österreich besucht – vor allem um zu schauen „was haben wir gemeinsam“. Und es ist ihr tatsächlich gelungen, im Kontakt empathisch deren Bedürfnisse zu spüren.

Aber inwiefern würde das auf einer breiteren gesellschaftlichen Ebene „funktionieren“? Und wie? Was könnte das bewirken? Wäre allein schon der versuch nicht komplett naiv oder gar gefährlich?

Nach der Erfahrung von Stephanie hab‘ ich (gemeinsam mit Helmut Wolman von der Karte von Morgen) sogar mit der Idee gespielt, den jungen und durchaus schlauen Kopf der Identitären Bewegung in Österreich zu einem Interview einzuladen und zu schauen, was unser „Common Ground“ ist (bzw. eigentlich mit der Vorstellung, dass sich was bei ihm etwas verändern könnte …).

Aber mir ist klar geworden: damit würde ich einem problematischen Menschenbild und intoleranten Werten Raum geben und sie damit vielleicht sogar stärken.

„Nichts verschwindet jemals, bevor es uns nicht gelehrt hat, was wir wissen müssen.“ – Pema Chödrön

Verstehen und trotzdem NEIN sagen

Das Koordinatensystem von Scharmer (das ich im Beitrag „Jenseits von Rechts und Links“) beschrieben habe, hilft mir, den Unterschied zu benennen zwischen den „Feldern“. Der liegt für mich in der Haltung, in der Offenheit von Geist, Herz und Willen. In weitherziger Toleranz und in einer Weltsicht von Verbundenheit allen Lebens. D.h. zum Beispiel, dass wir uns als eine Menschenfamilie sehen (und ein „We first“ im Sinne von „Make us great again“ dieser Weltsicht widerspricht) – und auch einem Anstreben gleichwürdiger Menschenrechte.

Mein Conclusio: Ja, einerseits kann ich mich zu den Bedürfnissen der Menschen hinter der identitären Bewegung empathisch verbinden, kann dem Menschen und seinem Schicksal gegenüber sogar Liebe empfinden. Doch andererseits möchte ich mich KLAR UND DEUTLICH von den Strategien der Identitären abgrenzen und die aus meiner Sicht problematischen zugrundeliegenden Werte sichtbar machen und kritisieren.

Ja, ich kann den Menschen sehen, seine Sorgen und seine Verletztheit. Ich kann vielleicht sogar die Schlüsse in seinem Weltbild nachvollziehen – und doch möchte ich hier laut NEIN sagen. Und zum Beispiel ´nicht mit ihm gemeinsam auf einer Demonstration sein (schon gar nicht auf einer, wo er mit dazu aufgerufen hat)!

Was sagt eine der innovativsten Journalist*innen zum Umgang mit Andersdenkenden?

Spannend finde ich, was Corinna Milborn (österreichische Journalistin des Jahres 2018) mir  erzählte zu dem, wie wertvoll sie die Begegnung mit Andersdenkenden empfindet und welche Grenzen sie zieht:

„You can’t hate someone whose story you know.“ – Meg Wheatley

Wann endet Toleranz?

In unserem Rechtssystem gibt es Konsequenzen, wenn aus einer Meinung eine Beleidigung oder Volksverhetzung wird. Und das ist gut so, denn auch unsere Toleranz braucht Grenzen:

Intolerante Menschen und Bewegungen dürfen eine tolerante Gesellschaft nicht ausnutzen, um sie in ihr Gegenteil zu verkehren.

Dieses „Toleranz-Paradox“ – nach Karl Popper – besagt, dass uneingeschränkte Toleranz unausweichlich zum Verschwinden der Toleranz führt. Es ist kein Zufall, dass sein Buch ‘Die offene Gesellschaft und ihre Feinde’ ausgerechnet im Jahr 1945 erschien.

Wann endet Toleranz? Wann beginnt Intoleranz? Die Antwort kann lauten: Wenn Freiheitsrechte eingeschränkt, Grundrechte missachtet und Menschenwürde verletzt werden.

Und natürlich heißt das konkret: Was verletzt die Menschenwürde? Wie weit geht Meinungsfreiheit? Wo endet meine Freiheit, weil die Freiheit der Anderen beginnt?

„Work where it counts“

Wir leben in einer Welt, in der Weltbilder und Wahrheiten auseinanderdriften. Vielfach erleben wir heute Menschen – inklusive den sogenannten mächtigsten Mann der Welt – die völlig destruktiv kommunizieren. Es fehlt der Wille zur Verständigung. Bisher in unserer Gesellschaft geltende Konventionen werden völlig über Bord geschmissen (z.B. was Wahrheit und Anstand betrifft).

Wo sollen wir also damit beginnen, für Toleranz und Verständnis einzustehen? Wo ist es den Versuch wert, eine Brücke zu bauen – und wo „vergebene Liebesmüh“? Wenn Menschen schon ganz festgefahren sind in einer Meinung, dass wir alle einer großen Verschwörung der dunklen Machtelite aufsitzen und mit einem jahrhundertealten Masterplan manipuliert werden … inwiefern macht es Sinn, sich zu bemühen?

Für mich persönlich ist ein wichtiges Prinzip, abzuspüren, wo ich meine Energie investiere. In der Permakultur habe ich den für mich wichtigen Leitsatz gehört „work where it counts“. Wie sehr liegt mir die Person am Herzen? Und ganz entscheidend: Ist das Setting überhaupt so, dass es eine Chance gibt für einen wirklichen Kontakt, gegenseitiges Verstehen und Veränderung? Je nachdem entscheide ich.

Peter und Cordula und das Toleranz-Paradoxon

Der Autor und Kommunikationspunk Sascha Lobo hat das Thema angesichts der Berlin-Demo aufgegriffen:

Deine persönliche Grenze – host yourself!

Wenn du diesen Artikel liest, dann ist dir vermutlich auch ein Anliegen, Brücken zu bauen.

Was mir zum Abschluss dieser Reihe wichtig ist zu sagen: Um gut Brücken bauen zu können, brauchen wir einen guten „inneren Zustand“, wo wir mit uns selbst gut verbunden sind, uns gut spüren – auch wo unsere ganz persönlichen Grenzen gerade im jeweiligen Moment sind.

Wir müssen nicht IMMER Brücken bauen, nicht IMMER die anderen hören, nicht IMMER unsere Feindbilder transformieren. Seien wir mindestens so empathisch und liebevoll mit uns selbst, wie wir es gern anderen entgegenbringen wollen.

Ein Tipp von meiner Kollegin Stephanie für schwierige Gespräche mit Andersdenkenden:

„Stell dir um dich eine Glaskugel vor, werde dir deines eigenen Raumes bewusst, und prüfe, wen willst du wie nahe zu dir lassen. Das Fundament für ein gelingendes Brücken-Bauen ist, dass du gut für dich selbst sorgst.“

Und so möchte ich mich zum Schluss bei dir bedanken. Für’s Lesen, Mitdenken, Kommentieren – und dass bestimmt auch du kleine Brücken baust im Rahmen dessen, was gut für dich möglich ist.

„Um tolerant zu sein, muss man die Grenzen dessen, was nicht tolerierbar ist, festlegen.“ – Umberto Eco

Was denkst du dir dazu?

Wie ist es bei dir? Was lösen die Impulse in diesem Beitrag aus?

Wo sind bei dir Grenzen mit Andersdenkenden? Wie sorgst du für dich selbst in diesem Zusammenhang?

Ich freu mich sehr über deine Impulse dazu. Bitte hinterlasse sie unterhalb in einem Kommentar!

Martin Kirchner ist Mitgründer der Pioneers of Change in Österreich