Gewaltfrei Wütend

Geht das? Gastbeitrag von Vivian Dittmar
Gründerin der Be-the-Change Stiftung

Viele Menschen setzen Wut mit Aggression und Gewalt gleich.
Das ist zwar naheliegend, verhindert jedoch, dass wir unsere Wut als positive Gestaltungskraft in Besitz nehmen und lernen, sie als solche zu lenken und einzusetzen.

Das hat die fatale Folge, dass gerade jene Menschen, die sich von Herzen für das Wahre, Gute und Schöne in der Welt einsetzen möchten, vor ihrer eigenen Wutkraft zurückschrecken und das Feld jenen überlassen, die ganz andere Interessen verfolgen.

Doch nicht immer genügt es, anderen gut zuzureden oder an ihr Mitgefühl zu appellieren. Es gibt Situationen im Leben, in denen es heißt, Farbe zu bekennen und einen klaren Standpunkt zu beziehen.
Und genau dafür ist unsere Wutkraft eigentlich da.

Wut…

Wut ist rot, Wut ist Feuer, Wut ist geballte Ladung, die einen Ausdruck sucht.

Wut ist wie Magma, das durch einen Krater nach außen drängt, oder wie ein Blitz, der sich zwischen Luftschichten entlädt. Wut ist eine Kraft, die Großes schaffen und ebenso Großes zerstören kann.

Wut ist Handlungskraft Nummer eins. Unser Körper wird von Adrenalin überflutet, das ganze System ist in Aktionsbereitschaft, Energiereserven ungeahnter Größe werden mobilisiert. Unmögliches wird möglich gemacht oder Unliebsames aus dem Weg geräumt. Wut ist eine Kraft, die wie ein Blitz durch uns hindurchfahren kann, wenn wir es zulassen.

Gastbeitrag von Vivian Dittmar
Vivian ist Gründerin der Be-the-Change Stiftung, Gefühlsexpertin und Mitgestalterin beim Online-Kurs Be.Come.

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„Das ist einfach falsch!“

Wut entsteht als Reaktion auf die Interpretation „Das ist falsch“. Ich kann die Interpretation „Das ist falsch“ nur dann treffen, wenn ich eine klare Position habe, da es im absoluten Sinn kein Richtig oder Falsch gibt.

Ist eine Umgehungsstraße für ein Dorf richtig oder falsch? Das hängt ganz von meiner Position ab. Als Anwohner der viel befahrenen Dorfstraße werde ich es wohl als falsch interpretieren, dass diese Umgehungsstraße nicht schon längst gebaut wurde.

Als leidenschaftlicher Naturschützer sehe ich das vielleicht genau umgekehrt: Noch eine Straße durch ohnehin schon geschädigte Wälder zu bauen ist doch wohl eindeutig falsch!

Ich werde meine Wutkraft einsetzen, um diese Position zu verteidigen und für die Rechte der Tiere einzustehen, die durch die neue Straße zum Beispiel von ihrer Wasserstelle abgeschnitten würden.

Wut ist also nicht nur auf eine Position angewiesen, sie kann diese auch definieren. Welche Position das ist, spielt für die Wutkraft keine Rolle. Ausschlaggebend ist, dass die gewählte Position klar ist und dass wir bereit sind, für sie einzustehen. Das ist alles.

Wut aus gesellschaftlicher Perspektive

In unserer Gesellschaft erlebe ich die Beziehung zur Wut als ambivalent. Einerseits wird die Aggressivität eines Managers in Verhandlungen durchaus geschätzt, andererseits werden die Prügeleien von Jungs auf dem Schulhof als problematisch diskutiert.

Wenn eine Frau weiß, was sie will, so ist das einerseits toll, andererseits gilt sie im Vollbesitz ihrer Wutkraft schnell als Mannweib oder sogar als hysterisch. Die Wutanfälle von Dreijährigen finden die meisten furchtbar, jedoch ist ein gewisses Durchsetzungsvermögen schon im Kindergarten durchaus erwünscht.

Im Klartext: Wutkraft ja, aber bitte sanft und freundlich. Kulturunabhängig wird Wutkraft eher bei Männern als bei Frauen geschätzt.

Natürlich gibt es auch Kulturkreise, in denen die Wutkraft komplett abgelehnt wird, besonders im asiatischen Raum. Jemandem mit Wut zu begegnen ist dort ein absolutes Tabu. Durch die Konfrontation damit, dass er oder sein Verhalten als falsch gesehen werden, verliert der andere sein Gesicht. Jede Kommunikation, dass jemand womöglich anders ist, als man es als angemessen empfindet, muss daher sehr dezent und geschickt über Dritte oder gar wortlos in diskreten, fast zufällig erscheinenden Hinweisen geschehen.

Wut als Kraft

Durch Wut beziehen wir eine Position. In dem Moment, in dem ich etwas als falsch definiere, zücke ich mein Schwert der Klarheit und definiere, was für mich in Ordnung ist und was nicht.

Wut ist dann die Kraft, die es mir ermöglicht, für diese Position einzustehen und sie bei Bedarf auch zu verteidigen.

Wut ist damit die Kraft der Klarheit. Ihr Feuer befähigt mich zu handeln. Durch sie gebiete ich jenen Einhalt, die meine Grenzen überschreiten, und durch sie stehe ich für meine Bedürfnisse ein. Durch Wutkraft wirke ich in der Welt und beeinflusse sie im Sinne meiner Einschätzung von Richtig und Falsch.

Indem ich eine Position beziehe, entscheide ich auch, wer ich bin.

  • Bin ich ein Mensch, der es in Ordnung findet, wenn hinter dem Rücken eines Freundes schlecht über ihn geredet wird, ohne ein klärendes Gespräch zu suchen?
  • Bin ich ein Mensch, der etwas dagegen hat, wenn Müll auf der Straße herumliegt, weil meine Mitmenschen zu faul sind, die Mülleimer zu verwenden?
  • Bin ich jemand, dem es egal ist, dass die Ökosysteme der Erde Tag um Tag in einem Ausmaß ausgebeutet werden, das nachfolgenden Generationen kaum eine Überlebenschance lässt?

Eine gesunde Wutkraft ermöglicht es mir, in all diesen Fragen klar Stellung zu beziehen und dann auch entsprechend zu handeln.

Menschen, die eine gesunde Wutkraft haben, werden von ihren Mitmenschen ernst genommen. Wir wissen, dass hier auf Worte Taten folgen.

Menschen mit einer guten Wutkraft sind starke Verbündete, wenn es darum geht, etwas ins Leben zu rufen oder einem Unrecht ein Ende zu setzen.

Doch bei Wutkraft geht es nicht immer nur um die ganz großen, weltbewegenden Dinge. Wutkraft beginnt bereits ganz klein. Wenn wir lernen, Wutkraft auch in  kleinen, ganz alltäglichen Situationen wahrzunehmen und wertzuschätzen, beginnen wir zu begreifen: Wut ist die Kraft, die Handlung ermöglicht.

Gute Kraft, schlechte Kraft?

Ob Wutkraft gut oder schlecht, richtig oder falsch ist, soll hier nicht diskutiert werden. Klargestellt werden will lediglich eines:

Wut ist eine Kraft wie Feuer oder Strom.

Ob diese nun gut sind oder schlecht, liegt nicht im Wesen dieser Kräfte, sondern lediglich in der Absicht, die sie lenkt. Und Fakt ist: Wir brauchen diese Kraft so sehr, wie wir Feuer und Strom brauchen.

Doch wir alle wissen, dass dieses Gefühl sich auch anders äußern kann. In ihrem Schattenausdruck ist Wut zerstörerisch und verletzend.

Wenn Wutkraft fehlt

Wenn uns Wut fehlt, so sind wir nicht nur besonders friedliebende Mitmenschen, sondern auch mehr oder minder handlungsunfähig. Unsere Angst, es irgendjemandem nicht recht zu machen, hält uns davon ab, eine Position zu beziehen, egal welche. Wir verkennen, dass Positionen wichtig sind.

Geschieht etwas, das uns nicht in den Kram passt, reagieren wir dann häufig mit Trauer. Damit wir unserer Hilflosigkeit nicht völlig ausgeliefert sind, verlassen wir uns auf subtil ausgeklügelte Manipulationsschemata und Opferdramen, um dennoch unsere Bedürfnisse erfüllt zu bekommen.

Denn eines steht fest, Bedürfnisse haben wir, solange wir leben. Indem wir uns weigern, eine Position einzunehmen, drücken wir uns vor einer ganz banalen Verantwortung, die jeder von uns hat: für sich selbst einzustehen, seinen Platz einzunehmen und für sich selbst zu sorgen.

Wir haben unsere Wutkraft, damit wir uns um uns selbst kümmern können, unser Revier abstecken können, klar sein können und dadurch etwas erschaffen können.

„Auge um Auge – und die ganze Welt wird blind sein.”
Ghandi

Auszug aus: Vivian Dittmar: Gefühle & Emotionen – Eine Gebrauchsanweisung, edition est, ISBN 978-3-940773-01-2

 

Gemeinsam mit Vivian haben wir den Online-Kurs Be.Come – Finde DEINEN Weg konzipiert.