Politik der Liebe?

Plädoyer für eine neue politische Kultur
angesichts der aktuellen Krise
von Alfred Strigl

Wie politisch sind wir? Wie sind wir politisch?

Gedanken zu politischer Menschlichkeit und was wir dazu beitragen können – Alfred Strigl (Pioneers of Change Mentor) antwortet auf meine Fragen.

Alfred, wie würdest du die derzeitige politische Situation in Österreich beschreiben?

„Erstaunlich überraschend und ent-täuschend entlarvend. Überrascht hat uns das alle. Denn viele hatten sich schon auf den „langen Winter“ in Österreich eingestellt. Sich selbst-täuschende Spieler haben ent-täuscht und damit ausgetäuscht. Sie haben sich selbst ihrer Ämter enthoben oder wurden ausgetauscht.

Umso mehr stellt sich staunendes Hoffen ein – Wunder geschehen über Nacht. Nun spüre ich Aufatmen, Entkrampfung, Entfesselung. Die innenpolitische Krise wird zur Chance – für Politik, Parteien, die Gesellschaft, für jeden Menschen im Land. Ich warne nicht vor übersteigerter Hoffnung, vor übertriebener Freude.

Lasst uns diese Zeit für den Wandel der politischen Kultur nutzen! Es ist möglich.“

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Wie kann dieses Momentum genutzt werden für eine andere politische Kultur?

„Achtsamkeit, Weitblick, Menschlichkeit. Das möchte ich von Politikern vorgebildet sehen. Zumindest den Versuch davon. Gut, dass ein paar Politiker für einen Moment die Larven haben fallen lassen. Sie zeigen uns ein Sittenbild unserer Gesellschaft: prahlerisch, zwiespältig, korrumpierbar.

Diese Politik ist Spiegelbild eines Teils der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Danke für die offene Zurschaustellung. Danke Herr Strache. Danke Herr Gudenus. Ihr zeigt uns, wie wir wirklich sind. Denn Besoffene und Kinder sagen die Wahrheit.

Drängen nicht die von Geilheit besessenen Medien die Politik in ein Gegeneinander? Wir erleben TV-Inszenierungen als martialische Rededuelle, fehdereiche Konfrontationen. Die Interviews sind gespickt mit zynischer Polemik. Wollen wir alle nur Krawall- und Kampfrhetorik? Nein. Es gibt auch eine andere Wahrheit.“

Wie würde diese neue politische Kultur ausschauen?

„In Wahrheit möchten wir – von denen da oben – verstanden, gehört und geliebt werden. Wir möchten verständnisvolle, großherzige, weise und gütige Leitfiguren und Leitstrukturen. Das gilt es zu entwickeln: Verfeinerung der Demokratie, Erdung des Kapitalismus, Solidarität mit der ganzen Welt.

Wir wurden durch die entlarvenden Ereignisse wachgerüttelt und können, ja müssen nun darüber nachdenken, wie eine neue politische Kultur aussieht. Ich meine, die Struktur des Parteiensystems ist an einen Wendepunkt geraten. Sich gegeneinander ausspielende Keiler-Partien führen oft nicht zu guten Lösungen. Ich wünsche mir Dialog, echte Kooperation, eine Kultur der Wertschätzung und Offenheit für Spannungen und Unterschiede.“

Und wie kann das dann gelingen?

„Wie in der Prozessarbeit oder in systemischen Aufstellungen braucht es eine politische Kultur, die alles da sein lässt, das sonst verleugnet oder verdrängt wird. Es geht ums Wagen, das Dunkle, die Schatten und Traumata, die Schuld und Scham wertschätzend, empathisch und sinnstiftend anzuschauen. Und es geht vor allem darum, das Stärkende, die Freude, das Gelingende anzuerkennen – bei sich und bei den politisch Anderen.

Das ist ein schönere Welt, wo Kooperation und gelingende Beziehungen angestrebt werden. Nicht nachdenken müssen, wie ich dem anderen Lager eins auswische. Sondern wo echtes Lob, aufrichtige Anerkennung und tiefe Dankbarkeit in Konkurrenz stehen. Echte Integrationsarbeit nenne ich das.

Das oberflächliche Abtauschen von Generalisierungen hat ein Ende. Vielfalt, Pluralität, Widersprüche – das gilt es heute auszuhalten.

Längst haben wir Instrumente und Methoden, die uns auf der Höhe der Zeit darin begleiten: the Art of Hosting, Achtsamkeit und Kreiskulturen, die sich auszeichnen durch Hinhören, Konsensieren und Konsentieren, ebenso wie Bewusstseins- und Projektionsarbeit.“

Ausschnitt vom Interview mit Alfred Strigl beim Pioneers of Change Online Summit.

Und wie siehst du PoC innerhalb dieses Veränderungsprozesses? Was empfiehlst du uns?

„Pioneers of Change muss politischer werden, muss eine gesellschaftspolitische Bewegung werden! Darin liegt der Gründungsimpuls: zu zeigen, dass es auch anders geht, dass es im Miteinander besser geht als im Gegeneinander.

Ein wichtiges Stilelement von Pioneers of Change ist für mich die Art wie wir uns empören, wie wir rebellieren. Schönheit und Hingabe, Mut und Begeisterung, das sind die Werte, die uns auszeichnen. Skandierendes Gegröle hat bei uns keinen Wert.

Wir Pioneers rebellieren durch tiefes Empfinden von Mitgefühl mit allem Lebendigen, kraftvolles Einstehen für Menschenrechte, Humanismus, Solidarität und Vielfalt. Wir rebellieren durch Harmonie im Singen mehrstimmiger Lieder. Das ist echter Widerstand.

Pioneers of Change hat eine Kultur der Gemeinschaft begründet. Die Lerngänge, Summits und Regionalgruppen haben tausende Menschen dazu inspiriert und angestiftet. Lasst es raus! Singt Taizé-Lieder oder den Andachtsjodler. Vierstimmig!“

Was kann jede und jeder Einzelne beitragen?

„Hinhören. Fühlen. Danken. Buchstabieren lernen, was in ihr und ihm lebt. Wut und Ärger ebenso wie Angst und Ohnmacht ansprechen. Einander zumuten. Einander wahrhaftig begegnen. Weinen. Lachen.

Lasst uns nicht an Herzverhärtungen massenweise abkrampfen! Trauen wir uns zu, einander zuzumuten! Die liebende Geste muss in Politik und Wirtschaft zur Norm, die anweisende Geste zur Ausnahme werden.

Und all jenen, die sagen, dass Liebe nicht in die Politik, sondern ins Private oder Religiöse gehört, erwidere ich: Die Zeit ist gekommen, da Liebe und Mitgefühl sich erheben, um die Kultur der politischen Menschlichkeit zu erschaffen.

Dieser Planet braucht eine Politik des friedvollen Miteinanders. Die Menschen brauchen eine Politik des friedvollen Miteinanders. Wir werden diese Politik bekommen, wenn wir selbst das friedvolle Miteinander üben. Im Tanzen und Singen zum Beispiel.“

Alfred Strigl
Nachhaltigkeitsexperte und Unternehmer, Mitinitiator von Pioneers of Change, Universitäts-Dozent, „seine heilige Irritation“.