Wenn der Funke
überspringt

Erkenntnisse vom Online Summit
Interview im TAU-Magazin

Wenn der Funke überspringt

Martin Kirchner hat im Rahmen des Pioneers of Change Online Summit Interviews mit über 100 herausragenden Pionier*innen geführt – über den Wandel unserer Gesellschaft und was das mit uns zu tun hat. Irmgard Stelzer (TAU) hat ihn getroffen und ein Gespräch mit ihm geführt.

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TAU: Was haben die vielen Geschichten mit dir gemacht?

Martin: Zuerst hab ich mir gedacht: „Mein Gott, ich mach halt einfach Interviews.“ Mit der Zeit hab ich dann aber gemerkt, dass mich diese besonderen Begegnungen tief berühren und mich auch als Mensch verändern. Dass ich innerlich wachse, indem ich offen, präsent und innerlich zugewandt mit meinen persönlichen brennenden Fragen in Dialog gehe.

Mit der Zeit konnte ich auf manche Aussagen von Menschen zugreifen, hatte Schlüssel- Zitate präsent. Neben dieser kognitiven Ebene – also was diese „gscheiten“ Menschen alles sagen – gibt es aber noch eine andere Ebene: Durch diese teilweise wirklich emotionalen Begegnungen entstand bei mir tiefe Berührtheit, es sprang ein Funke über.

Ich habe das auch bei den Pioneers of Change immer wieder erlebt, dass das Wesentliche unsichtbar passiert. Im tibetischen Buddhismus gibt es das Konzept von „Transmission“. Da wird etwas übertragen, man dockt an einem Feld an und schwingt mit.

Es sind nicht bloß die Worte, die wir sprechen, sondern etwas geht auf einer unsichtbaren Ebene auf mich über, dadurch, dass da jemand dasteht und etwas verkörpert.

Eine Geschichte zum Beispiel, die lang in mir nachgeschwungen ist: Tobi Rosswog erzählt, wie er als radikal liebevoller Aktivist unterwegs ist, u. a. im Hambacher Forst. Wie er den Polizistinnen und Polizisten liebevoll begegnet, z. B. wenn er verhaftet wird.

Von Nicole Lieger hatte ich vor vielen Jahren schon einen Schlüssel-Gedanken dazu bekommen: „Das sind nicht ‚die und wir‘, ‚die Bösen und wir, die recht haben‘ – das sind ‚diejenigen von uns‘, die in diese Rollen geraten sind, die ihnen auch nicht unbedingt taugen.“

Die Geschichte von Tobi schwingt dann in mir nach und regt mich an zur Frage: „Wie kann ich noch radikaler werden? Wie kann ich die Haltung noch mehr in mein Leben bringen?“ Wenn ich z. B. auf die „Extinction Rebellion-Bewegung“ schaue und höre und lese, wie die das angehen – nach Gandhi und Martin Luther King –, das kann ich dann mit dem Gefühl in Verbindung bringen, das ich hatte, als ich mit Tobi sprach.

Es sind nicht bloß die Worte, die wir sprechen, sondern etwas geht auf einer unsichtbaren Ebene auf mich über, dadurch dass da jemand dasteht und etwas verkörpert.

Tobi Rosswog erzählt, wie er als radikal liebevoller Aktivist unterwegs ist und den Polizistinnen und Polizisten liebevoll begegnet, z. B. wenn er verhaftet wird.

TAU:Persönlichkeiten als Vorbilder sind inspirierend – und sie können manchmal auch stressen. Ist dir das begegnet?

Martin: Ich hör immer wieder, dass Interviews mit Menschen, die keine „Big Names“ sind bzw. die ganz authentisch von ihrem Scheitern berichten, den Menschen so unheimlich gut tun.

Zum Beispiel hab‘ ich ein Interview mit Ben Paul geführt. Der hat die Uni geschmissen und war dann als Bildungsrebell unterwegs und wurde in jungen Jahren ein sehr erfolgreicher Blogger, Online-Unternehmer und hielt vor tausenden Menschen Vorträge. Ja und dann hat er alles hinter sich gelassen, ALLES!

Sein Interview hat die allermeisten Kommentare gekriegt, wie er da von seiner Metamorphose geredet hat, vom Loslassen von Sicherheiten und Vorstellungen, von Traumata, die ihn angetrieben hatten, sogar von Suizidgedanken, von Heilung in der Dunkelheit.

Solche Interviews wie das mit Ben helfen den Menschen zu sehen : „Ok, denen geht’s auch so wie mir. Die sind alle nicht perfekt.“

Diese unperfekte, offene Menschlichkeit ist eine Qualität, die ich auch verkörpere und so auch immer reinzubringen versuche. Gerade Menschen, die viel erreicht haben oder viel bewegen, sind durch schwierige Phasen durchgegangen – das sind eben nicht nur die gülden glitzernden Erfolgsstorys.

Und natürlich fordert mich die Begegnung mit Vorbildern immer wieder auch persönlich. Eine Geschichte dazu: Ich hab einen Lieblingshelden, Rob Hopkins, Gründer der Transition Town Bewegung, vor dem hab ich großen Respekt.

Nach einem Jahr intensiver Bemühungen ist es mir wirklich gelungen, dass er für ein Interview zugesagt hat. Das Gespräch war relativ lang, weil ich noch so viele Fragen gehabt hatte und nicht aufhören wollte. Es war dann schon wirklich genug für ihn.

Ich bin dann ausgestiegen mit so einem Gefühl von „er mag mich nicht“ und in einen starken Prozess hineingekommen, wo dieses Gefühl da war, klein zu sein, nicht gut genug zu sein. Wo ich mich sehr zerbrechlich gefühlt hab.

Es war ein tief emotionaler Prozess, wo ich dann wunderbar von meiner Frau Petra begleitet worden bin. Ich hab die Emotionen da sein lassen und bin mit ihr durchgegangen. Das ist für mich Teil meines Transformationsprozesses mit dem Summit, dass ich mich dem wirklich stelle und spüre, was da zu spüren ist.

Dazu hab‘ ich dann ein Video gemacht, wie‘s mir dabei geht, und dass mich das irgendwie trifft. Und dass ich gleichzeitig auch dastehe und sage: „Ich will nicht warten, bis ich perfekt bin, bevor ich was anfange. Ich will da anfangen, wo ich bin.“

Das Video hat dann am allermeisten Resonanz gehabt, ist richtig viral gegangen, denn wir alle kennen das, dass wir uns nicht trauen, weil wir Angst vor Kritik haben. Nun, ich lerne durch das Tun dazu, bin schon viel „beholfener“.

TAU: Was ist die Geschichte, die du, Martin Kirchner, gerne erzählen möchtest auf dieser Welt? An die du glaubst oder an die du gerne glauben möchtest?

Martin: Das ist eine gute Frage – „an die du gerne glauben möchtest“… denn es ist eine Entscheidung!

Wir wissen nicht, ob wir als Menschheit auf den totalen Kollaps zurasen oder ob wir doch die Kurve kriegen, wie‘s Rob Hopkins kürzlich bei seinem Vortrag in Wien gesagt hat: „What if everything turns out well?

Es ist nicht wurscht, welche Geschichte wir uns erzählen. Insofern entscheide ich mich für die Geschichte, dass wir als Menschheit in einer zunehmenden Bewusstwerdung und Wiederverbindung sind. Dazu gibt’s die Perspektive von Sri Aurobindo (Indischer Freiheitskämpfer und Guru): Im Vergleich zu dem, was wir Menschen einmal sein werden, sind wir jetzt sozusagen im Status von Affen. Er hatte eine Entwicklungsperspektive von vielen 100 oder 1000 Jahren, er erwartete nicht, dass in unserer Lebenszeit großartig der „Aufstieg in die nächste Dimension“ stattfindet. Und gleichzeitig ist für meine Geschichte, die ich mir erzähle, die Möglichkeit von plötzlichen Umbrüchen und kollektiven Entwicklungssprüngen aufgrund eines Bewusstseinswandels wichtig.

Die Chaostheorie sagt, dass wir in einem dynamischen Equilibrium leben, wo es einen Punkt geben kann, an dem es plötzlich „umschnalzt“ auf eine andere Ebene, wo sich plötzlich ganz viel verändert. Ein Bifurkationspunkt, wo es in unterschiedliche Richtungen gehen kann – vielleicht sind wir jetzt gerade da in Österreich [Mai 2019].

Ich sehe auch, dass sich vor einem plötzlichen Wandel die Veränderung unsichtbar aufgebaut hat – unter dem Radar der Medien. Da zähl ich TAU und die Pioneers of Change mit dazu, die wir eine kritische Masse mitaufbauen, die an so einem „Um- schnalzpunkt“ wirksam werden kann.

Ich erzähl mir also: „Ganz viel ist möglich!“ Und wer weiß, wenn Fridays for Future und Extinction Rebellion-Bewegung richtig stark werden, ob dann nicht doch radikalere Systemveränderungen möglich werden, von denen wir heute noch nicht zu träumen wagen.

Dieses Interview ist auch im TAU Magazin Heft 14 erschienen.

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Fridays for Future-Bewegung

Martin Kirchner ist Mitgründer der Pioneers of Change in Österreich