Dankbarkeit

Dankbarkeit als revolutionäre Kraft

Wie eine »Praxis der Dankbarkeit« Sinn macht für gesellschaftlichen Wandel.

»Dankbares Leben bringt anstelle von Gier: Teilen; anstelle der Unterdrückung: Respekt; anstelle von Gewalt: Frieden. Wer sehnt sich nicht nach einer Welt des Teilens, des gegenseitigen Respekts und des Friedens?«

David Steindl-Rast

Mich fasziniert, dass der weit über 90-jährige Benediktinermönch David Steindl-Rast erzählt, dass die glücklichste Zeit seines Lebens im Krieg in Wien war – weil er jeden Moment als so kostbar erlebte.

Krass: In der Schule hat er mit seinen Kameraden die Lehrer ausgelacht, als diese ihnen Aufgaben für die kommende Woche gaben. Im Bombenhagel wussten sie ja nicht, ob sie in der nächsten Woche noch leben würden, und so klang dieser Auftrag in ihren Ohren einfach nur lächerlich!

Bruder David wurde dann in den USA Benediktinermönch und Brückenbauer zwischen den Religionen (ich durfte ihn 2007 mal gemeinsam mit dem Dalai-Lama erleben, wo er  im kleinen Kreis diese Geschichte erzählt hat).

Steindl-Rast entwickelte eine schlichte Spiritualität der Dankbarkeit, die jenseits aller religiösen Formen eine Praxis und Haltung dem Leben gegenüber ist, die Pionier*innen des Wandels Kraft für ihr Wirken geben kann.

Dankbarkeit als spirituelle Praxis

Dankbarkeit ist dabei keine oberflächliche »Feel-good«-Methode oder nur eine Praxis für die Privilegierten.

Bruder David sagt zwar  in seinem berühmten TED-Talk  »Das heißt nicht, dass wir für alles dankbar sein können – etwa für Krieg, Krankheit oder den Tod Nahestehender«.

Und doch stellt er klar fest: »Auch im Unglück kann man dankbar sein«. Aber wie geht das?

Auch im Unglück… Gelegenheit sehen!

Er meint also sehr differenziert, dass wir zwar nicht für alle schwierige Situationen und Lebensumstände dankbar sein können. Aber für die Gelegenheiten, die diese uns eröffnen. Die Gelegenheit zu lernen, zu wachsen, uns als sensibel oder stark zu erleben,  das Leben als so kostbar zu erfahren, …

»Wenn wir auf unser Leben zurückschauen, dann sehen wir meist: Das, was uns als das größte Unglück erschienen ist, hat sich als das größte Geschenk herausstellt, weil es zu unserem größten Wachstum beigetragen hat.«, meint Steindl-Rast.

Und er sagt:

»Du kannst nicht für alles dankbar sein – aber in jedem Moment!«


Diesen Satz kann ich nachvollziehen, denn …

Vor vielen Jahren lag ich im Krankenhaus mit einer halbseitigen Gesichtslähmung. Alle meine Visionen und Projekte hatten sich rund um diese Zeit in Nichts aufgelöst und da lag ich, zurückgeworfen auf mich in einem Zimmer mit vier schnarchenden Mannsbildern.

Und doch gelang es mir irgendwie, so gut bei mir anzukommen und alles anzunehmen, dass ich glücklich und dankbar wie selten zuvor war (feine Musik und Interviews von Desmond Tutu und Julia Butterfly Hill im Kopfhörer halfen…). Auch wenn ich für die Gesichtslähmung jetzt keine »Dankbarkeit« empfinden konnte – konnte ich in diesem Moment doch meine Aufmerksamkeit auf etwas lenken, das mich ganz erfüllt hat.

Dankbarkeit und Glück

Vielleicht denkst du, dass Dankbarkeit die Folge von Glück ist: Je mehr du hast und erreichst, desto glücklicher bist du. Und je glücklicher du bist, desto dankbarer fühlst du dich.

Blödsinn!

Du kannst im klassischen Sinn super erfolgreich sein, ganz viel »haben« und gleichzeitig total unglücklich sein.

Oder du kannst nichts haben oder gar extreme Situationen erleben – und trotzdem dankbar sein (»Du hast immer eine Wahl« sagt Eva Edith Eger in ihrem genialen Buch über ihre Ausschwitz-Erfahrungen).

Wie also geht »Dankbarkeit«?

Für Bruder David ist die Praxis der Dankbarkeit verwurzelt im «Betrachten«: Zeit nehmen, um innezuhalten und die jeweilige Erfahrung wertzuschätzen – auch wenn es nur ein Atemzug ist, eine »Lektion des Lebens«. Oder wenn ich meine eigene Stärke und Widerstandskraft in einer schwierigen Situation würdige. Ich kann in diesem »Betrachten« meinen Zugang zur Dankbarkeit finden.

Er meint «Es ist genauso, wie wir das Kindern beibringen, wenn sie eine Straße überqueren: Stoppen, schauen und dann erst loslaufen«. Bruder David hat das Network for Grateful Living gegründet – auf der Website gibt es feine Übungen und Reflexionen zur Dankbarkeit.

Dankbarkeit spüren lernen

Sehr passend dazu schrieb kürzlich eine Teilnehmerin unseres Online-Kurses »Be.Come« in einem Post auf Facebook:

Lange Zeit wusste ich nicht, was das ist, Dankbarkeit. Ich sagte »Danke« wenn ich etwas geschenkt bekam, wenn ich ein Kompliment bekam, beim Einkaufen, usw. Ich sagte Danke, wie ich Bitte sagte und empfand nichts. Ich sagte Danke weil es mir in meiner Kindheit so beigebracht wurde. Mir wurde beigebracht, es zu sagen, nicht es zu fühlen, und so fühlte ich über Jahrzehnte nicht, was Dankbarkeit wirklich bedeutet.

Für mich war Dankbarkeit ein Gefühl – oder eine innere Haltung – mit der ich nix anfangen konnte. Was gingen mir diese »Heiligen« mit ihrer Dankbarkeit auf die Nerven, besonders die, die dann auch noch weinten vor Dankbarkeit – und heute sitze ich da und bin eine von ihnen, und auch noch dankbar dafür. 

Die Dankbarkeit schlich sich leise in mein Leben. Und das tat sie nicht, weil ich nichts tat, sondern weil ich mich jeden Tag auch darin übte, in Kontakt mit meiner inneren Göttin zu kommen – meine Version. Es kann auch Gott, höhere Macht, Geist des Universums, morphogenetisches Feld, Quantenfield, Natur, Bauchgefühl, 6. Sinn, usw. genannt werden.

»Die Wurzel der Freude ist Dankbarkeit. Es ist nicht Freude, die uns dankbar macht – es ist Dankbarkeit, die uns freudvoll macht.«

David Steindl-Rast

Die Kraft von Dankbarkeit

Ilona Koglin hab‘ ich beim Online-Summit interviewt. Als Gründerin von »Jetzt retten wir die Welt« schreibt sie über Dankbarkeit (weitere Auszüge von ihrem Blog sind im Beitrag eingearbeitet):

Dankbarkeit hat eine gewaltige Veränderungskraft für dein Leben: Wenn du sie übst, dann förderst du damit nicht nur dein Glück. Du förderst deine Großzügigkeit und damit deine sozialen Beziehungen zu anderen Menschen – einer der wichtigsten Bausteine für ein glückliches Leben. Und damit unterstützt du auch deine Gesundheit.

Denn je dankbarer und zufriedener du mit dem bist, was du hast und wer du bist, desto weniger Statuskonsum brauchst du – also den unnötigen Konsum, den du eigentlich nur tätigst, um Eindruck auf andere Menschen zu machen und deinen sozialen Status zu erhalten oder zu verbessern.

Dankbarkeit hilft, Verbundenheit zu spüren

Bruder David verweist auch auf Dankbarkeit als Schlüssel zu Verbindung und Zugehörigkeit – in dem Moment, in dem man Dankbarkeit empfindet, zeigt man oft auf jemanden oder etwas anderes (Essen auf dem Teller zum Beispiel oder die Leute, die es gegeben haben).

Mit anderen Worten, Dankbarkeit kann uns zu einer Wertschätzung von Verbundenheit und Interdependenz verhelfen.

Dankbarkeit macht gesund und froh

Das nach eigenen Angaben weder religiöse noch spirituelle Greater Goods Science Centre in Berkeley erforscht die Auswirkungen von Dankbarkeit und hat festgestellt:

  • Dankbar lebende Menschen haben ein bessere Immunsystem,
  • sie erleben mehr positive Gefühle,
  • sie sind somit fröhlicher, glücklicher und optimistischer,
  • das macht sie großzügiger und einfühlsamer,
  • und so fühlen sie sich schließlich auch weniger einsam und isoliert.

Auch gibt es zunehmend Forschung über die positive gesellschaftliche Wirkung von Dankbarkeit, z.B. bei der Unterstützung von sozialer Resilienz. Und in Bezug auf die mit Dankbarkeit verbundenen positiven Emotionen wird gezeigt, dass sie die Bereitschaft erhöhen, sich mit anderen zu verbinden, auch jenseits von Differenzen. Sie helfen außerdem, mehr Möglichkeiten zu sehen und offen zu bleiben.

Basis einer friedlichen Revolution

Mehr Dankbarkeit hat also keineswegs nur eine Auswirkung auf unser privates Lebensglück. David Steindl-Rast meint, dass Dankbarkeit sogar das Tor zu einer friedlichen Revolution sein könnte.

Der Grund: Wer dankbar ist, lebt in einer gefühlten Fülle. Somit ist jemand, der dankbar ist, nicht ängstlich. Und wer nicht ängstlich ist, ist nicht gewalttätig. Er ist im Gegenteil großzügig (denn er hat ja genug) und voller Respekt allem Leben und allen Dingen und den anderen Menschen gegenüber. Er schätzt die Unterschiedlichkeit, anstatt sie zu fürchten und zu bekämpfen.

Auf diese Weise führt »radikale« Dankbarkeit laut Steindl-Rast zu einer neuen Art der Revolution. Und zwar zu keiner, die die bisherige Hierarchie einfach nur austauscht gegen eine neue Hierarchie (bei der diejenigen, die nun »oben« sitzen diejenigen sind, die vorher »unten« saßen).

Stattdessen führt Dankbarkeit zu einer neuen Form des Miteinanders, die einem Netzwerk ähnelt und in der jeder Mensch auf gleicher Augenhöhe steht.

Grundhaltung für Pionier*innen des Wandels

Was ist, wenn wir unsere Veränderungsinitiativen auf der Basis von Dankbarkeit und Wertschätzung entwickeln? Wenn wir unseren Vorfahren, dem »System« und den Möglichkeiten in unserer Zeit mal grundlegend dankbar sind?

Wenn wir so manch Politiker*innen, Lobbyisten und Rechtsradikalen mal mit Wertschätzung begegnen, aussteigen aus dem Kampf »wir gegen sie«, was würde uns das ermöglichen? Das heißt nicht, alles gut zu finden – aber können wir dankbar sein, für die Gelegenheiten, die sich in der Auseinandersetzung bieten?

Für mich und viele Pionier*innen des Wandels, die ich kenne, ist eine bewusste Rückverbindung mit »wofür wir dankbar sein können« das Fundament für ein heilsames Wirken in der Welt. Dankbarkeit gibt uns Kraft in unserem Ringen – für eine schönere Welt und mit persönlichen Herausforderungen.

Wie geht’s dir damit?

Wofür bist du dankbar?

Wie pflegst du eine »Praxis der Dankbarkeit«?

Danke auch an Ilona Koglin, manches in diesem Beitrag habe ich von ihrem Blog-Beitrag über »die friedliche Revolution der Dankbarkeit« übernommen.

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