Otto Scharmer

Neue Räume für die Zukunft

Otto Scharmers Optimismus trotz Polykrise

Was sind wesentliche Baustellen und Problemfelder unserer Zeit? Wie können wir das Neue an den Rändern des Systems in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit bringen? Was braucht es dazu, dass die vielen Initiativen für einen Wandel zusammenarbeiten, um ihre Kräfte zu bündeln?

Ein freudiges Wiedersehen

Es ist ein zutiefst berührender und herzerwärmender Moment. Wir sitzen noch spät abends im Bildungshaus St. Arbogast (Vorarlberg): die soziale Neurowissen­schaft­lerin Tania Singer mit ihrem Team, Verena Ringler und ich, als plötzlich Otto Scharmer hereinkommt, etwas müde von der langen Reise. Die Wieder­sehens­freude ist groß… Sechs Jahre haben sich Tania und Otto nicht gesehen – aber jetzt bei den »Tagen der Utopie« klappt‘s. Die beiden verbindet eine langjährige Freund­schaft.

Sie – die soziale Neurowissenschaftlerin, die sich mit innerem Bewusst­seins­wandel beschäftigt. Er – der Systemwandelforscher, der die Transformation großer Systeme erforscht. Die beiden verkörpern mit ihrer Arbeit, dass wir beides dringend brauchen: inneren und äußeren (System-)Wandel.

Am nächsten Morgen skizziert Otto im Dialogkreis – unvorbereitet, wie er meint – die großen »Baustellen«, die er derzeit im Moment in der Welt sieht und was es jetzt aus seiner Sicht braucht.

Die großen Baustellen unserer Zeit

Von Denialism zu Doomism – vom Verleugnen in die Untergangsstimmung

Wir erleben gerade einen beunruhigenden Übergang: von der Verleugnung (Denialism) zur Untergangsstimmung (Doomism), vom »Es ist alles nicht so schlimm« (Klimakrise, soziale Krisen) zu einer Haltung des »Es ist sowieso schon alles zu spät«.

Die Untergangsstimmung erlebt Otto vor allem bei jungen Menschen – und sie macht ihm besondere Sorgen, denn: Wenn wir keinen Zugang dazu finden, dass wir etwas in der Welt gestalten und etwas zum Wandel beitragen können, dann geht alles andere auch nicht mehr.

Warum individuelle Verhaltensänderung nicht genug ist

Wir wissen »alles« über die Ursachen der Krisen und wir wüssten auch, was zu tun ist, aber: »die kollektiven Entscheidungsmuster verändern sich nicht«.

Beispiel Konsum: Das eigentliche Problem ist nicht das individuelle Verhalten, sondern die kollektiven Entscheidungsmuster. Denn wir investieren immer noch in die falschen Konzepte, wie z. B. Förderung fossiler Energie. Die Individualisierung der Entscheidungsverantwortung ist daher hochproblematisch.

Warum kollektives Bewusstsein derzeit von Zerstörung geprägt ist

Unsere Welt erlebt derzeit sowohl Prozesse der Zerstörung (Absencing) in der Umwelt / Mitwelt als auch in unserem Innenverhältnis. Dabei wird Vertrauen beschädigt, wie beispielsweise in die Funktionsweise unserer Gesellschaften. Obwohl wir alle diese Wirklichkeit der Zerstörung erleben, gibt es auch Momente des »Presencing«, in denen sich neue Initiativen und Projekte zeigen, die das System auf transformative Weise verändern. Wir leben also in beiden Welten von Absencing und Presencing.

Das öffentliche und kollektive Bewusstsein ist jedoch stark geprägt von den Zerstörungsmechanismen, die von sozialen Medien durch eingebaute Verstärkermechanismen gefördert werden.

Diese Mechanismen haben das Ziel, das User-Engagement zu optimieren, indem sie auf Wut, Hass und Angst – den zentralen Emotionen des Absencing (Zerstörungsmodus) – abzielen, die durch Filterblasen verstärkt werden. Das verstärkt die Trennung innerhalb der Gesellschaften.

Wir brauchen also dringend eine Stärkung des gegenseitigen Vertrauens, des Dialogs und der Verständigung über die verschiedenen »Blasen« hinweg.

Die Macht von Sonderinteressen und »dark money«

Dazu kommt, dass kleine einflussreiche Gruppen mit der Zerstörung des Planeten viel Geld verdienen – und dass diese besonders effektiv sind, mit ihrem Finanzkapital (und auch Schwarzgeld) ihre Sonderinteressen durchzusetzen.

Dagegen ist die Szene der vielen neuen Initiativen unglaublich fragmentiert, hat wenig Geld und ist nicht gemeinsam organisiert. Hier liegt also noch viel Potenzial in der stärkeren Zusammenarbeit der Wandel-Akteur:innen, damit das Neue sicht- und spürbar wird.

»Dort wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.«


Friedrich Hölderlin

Auf der anderen Seite gibt es ein neues Bewusstsein (»Eco System Awareness«, Bewusstsein der Verbundenheit), das überall auf der Erde erwacht. Und es ist unglaublich groß. Aber es wird kaum als solches wahrgenommen.

Deshalb brauchen wir Räume, in denen wir dieses neue Bewusstsein in eine gemeinsame Wahrnehmung bringen. Mit Hilfe von »Presencing« können wir zu den Quellen des Neuen gelangen (dem Kern der Theorie U, die aus Ottos Arbeit entstanden ist).

Die Zukunft ist schon überall da!

Denn: die Zukunft ist schon überall da! Das Neue finden wir oft an den Rändern des Systems – und oft nur »keimhaft«. Wie können wir das, was an den Rändern des Systems passiert in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit bringen?

Dazu braucht es neue Räume, um das Vorhandene sichtbarer zu machen und miteinander zu verbinden – Räume, in denen sich Systeme selbst sehen, spüren und schließlich »umstülpen« können (see, sense, invert itself).

 

Das System spüren und in sich aufnehmen

Wenn wir Systeme wirklich verändern wollen, müssen wir nicht nur das Problem sehen, sondern auch spüren, was an den Rändern des Systems wirklich passiert. Der beste Weg, dies zu tun, ist, wirklich an den Rand zu gehen und von dort aus wahrzunehmen.

Wenn wir wirklich spüren, was an den Rändern des Systems passiert, müssen wir zulassen, dass sich etwas »umstülpt«: dass wir das, was draußen ist, in uns »hineinnehmen». Und uns bewusstwerden, dass das, was an der Peripherie ist, ein Teil von uns selbst ist.

Die zentrale Frage

Um Veränderungen im Außen zu bewirken, müssen wir unseren inneren Ort verändern – wir brauchen einen offenen Geist, ein offenes Herz und ein offenes Wollen.

Die zentrale Frage lautet daher: Wie kann ich meine Beziehung zu mir selbst und zu den Akteur:innen im System verbessern?

Der Schlüssel dazu ist, die Qualität des Zuhörens zu verbessern (siehe auch Blog-Beitrag zum Brücken Bauen zu Andersdenkenden). Bevor wir andere verändern wollen, müssen wir bereit sein, uns selbst zu verändern und offen sein für eine neue Qualität von Beziehungen.

»Wir können ein System nicht verändern, ohne das Bewusstsein zu transformieren.«


Otto Scharmer

Was es jetzt brauche, sei »Gefäßbildung« (containment). Das ist für Scharmer die ganz neue Aufgabe von Leadership. Wir brauchen neue, niederschwellige Begegnungsformate, wo wir aus unseren Blasen herauskommen und das Ganze sehen und spüren können, in denen wir gemeinsam das zukünftige Potenzial erforschen und aus dem Spüren heraus in Worte fassen können. Das gelingt am besten, wenn sich Menschen rund um ein Thema oder eine Herausforderung zusammentun und organisieren (so wie wir es z. B. bei den Mitmach-Regionen bereits praktizieren).

Und dann ist es die große Kunst, einen vertrauensvollen Raum so zu gestalten, dass wir einander in der Tiefe hören und verstehen können, damit sich das keimhaft Neue in Momenten der Stille zeigen kann.

Denn die gute Nachricht ist: 74% der Menschen in den G20-Staaten (das sind 60% der Weltbevölkerung!) wollen eine tiefgreifende Transformation unseres ökonomischen Systems, damit wir die großen globalen sozialen und ökologischen Herausforderungen meistern können! (zur G20 Studie)

Passiert diese Transformation schon im Großen? Nein. Aber im globalen Bewusstsein scheint gerade etwas zu kippen. Und das hat großes Potenzial. Denn ein kollektiver Aufwachprozess ist möglich, wenn wir genau diese neuen vertrauensvollen Räume schaffen, wo wir mit allen Unterschieden gemeinsam das System wahrnehmen, spüren und erlauben, uns davon in der Tiefe berühren zu lassen.

Ein klarer Blick auf die großen Zusammenhänge und ein visionärer Blick auf das, was uns gemeinsam möglich ist – das ist es, was ich an Otto so schätze …

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Hemma & Martin | Pioneers of Change

Hemma & Martin

27 Kommentare zu „Neue Räume für die Zukunft“

  1. Barbara Regger

    Danke für den Beitrag. Er löst in mir eine Mischung aus Betroffenheit, Entsetzen und Begeisterung aus. Sich mehr zu vernetzen, aufeinander hören und neue Räume der Begegnung zu schaffen finde ich wichtig und ermutigend, um sich gegenseitig zu ermutigen und zu stärken. An die Ränder zu gehen schreibt auch Papst Franziskus. Transformation betrifft und wirkt in alle Lebensbereiche, hebt und weiter. Dankbar für Pionierarbeit und die damit verbundene Ermutigung nachzufolgen bzw. nachgehen zu können.

  2. ….auch von mir ein herzliches Danke für diesen kraftvollen Beitrag, liebe Hemma…..ich fühle darin eine Intensität und so viel Bestätigung….. das alles geht mit unter die Haut……. denn ich habe mehrmals “vertieft gelesen“ …..und mich dabei an den “Levels of Listening“ orientiert…….und so zu einer inneren Gewissheit gefunden, daß ich mit meinen “Nachbarschaftsprojekten“ , die ich nun beginne, umzusetzen, richtig liege…..voraussichtlich werden diese dann auch in den “Mitmach¬Regionen“ sichtbar werden…..und “enkeltaugliche“ Aspekte beinhalten….

    Viele liebe Grüße,
    Dagmar

    1. Danke, klingt nach Tatkraft und von der können wir alle mehr gebrauchen! – Nachbarschaftsprojekte …? Kannst du die benennen/beschreiben, vielleicht könnten andere die ja kopieren oder zumindest Anstöße in diese Richtung zu erhalten. Ich bin neugierig!

      1. …..inspiriert hat mich da das Interview mit Ira Mollay am heurigen Summit, wo sie davon erzählte, daß sie mal auf der Straße vor ihrer Wohnung frühstückte…..so hat sie einen ungewöhnlichen/außergewöhnlichen Begegnungsraum kreiert, fand ich, wo sichs auch anders weil lockerer ins Gespräch kommen läßt…..derartige Räume für nachbarschaftlichen Austausch zu allem, was Nachbarschaft ausmacht, zu schaffen….ist eine unserer Ideen……weil eine tragende nachbarschaftliche Gemeinschaft wichtig ist..und bestärkend….und auch gepflegt werden will……

  3. Robert Schmidt

    Hallo Hemma,
    Otto Scharmer skizziert den gegenwärtigen Zustand treffend. Auch hier in Thüringen gibt es sehr viele Menschen, die genau wissen, was eigentlich helfen würde, die aber nicht den Mut finden, das System zu verlassen. Sie werden nicht zu Akteuren, sondern erleiden weiter den Niedergang, sehenden Auges sozusagen. Die gegenwärtigen Preissteigerungen verstärken dieses Problem noch, denn wer seine Rechnungen weiterhin bezahlen will, muss sich noch stärker im System engagieren.
    Die Mitmachregionen sind ein guter Ansatz, bergen aber auch eine immense Gefahr der Unterwanderung, weil sie so öffentlich sind und auch offizielle Institutionen eingebunden sind. Ein mehr konspirativer Ansatz wäre aus meiner Erfahrung besser gewesen.
    Herzliche Grüße,

    Robert.

  4. Liebe Hemma, die Geschichte eurer Begegnung berührt mich sehr. Auch finde ich in diesem Artikel einiges wieder, das mir sehr wichtig ist. „die kollektiven Entscheidungsmuster verändern sich nicht“ – darum tue ich, was ich tue. Wichtig finde ich schon einmal, kollektive Entscheidungsmuster überhaupt in den Blick zu nehmen. Wie entstehen solche Muster? Welchen Anteil hat der einzelne Mensch daran und was ist nötig, damit die eigene Wirksamkeit erlebt werden kann und bewusst wird, “wir” entscheiden und nicht die Anderen da draußen
    “Niederschwellige Begegnungsformate” – dem bin ich auch auf der Spur. Besonders wichtig in meinen Augen: Da ist Raum für das, was gerade ist. Auch wenn es nicht direkt zu einem produktiven Ergebnis spürt. Vielleicht ist die Begegnung an sich schon das Ergebnis. Wenn die Intention für den Raum entsprechend klar gesetzt ist, kann das funktionieren, denke ich. Eine klare Frage, ein klarer (gehosteter) Raum…
    Den “Übergang von der Verleugnung zur Untergangsstimmung” beobachte ich auch schon seit einiger Zeit. Besonders beunruhigt mich, dass ich ihn auch auf verschiedenen politischen Ebenen wahrnehme. Wenn die sog. “Volksvertreter:innen” quasi stellvertretend diesen Schritt vollziehen und versäumen, dazwischen innezuhalten, wo der eigentliche Handlungsspielraum (und in meinen Augen ihr Auftrag) wäre – was geschieht da?
    “Wenn wir Systeme wirklich verändern wollen, müssen wir nicht nur das Problem sehen, sondern auch spüren, was an den Rändern des Systems wirklich passiert. Der beste Weg, dies zu tun, ist, wirklich an den Rand zu gehen und von dort aus wahrzunehmen.” Das erinnert mich sehr an die Prozessarbeit nach Arnold Mindell, in die ich eine Zeitlang tief eingetaucht bin. Gleichzeitig taucht bei mir die Frage auf: Ich lese die Einladung, das im Großen (System) wie im Kleinen (in sich selbst) zu tun. Was ist mit den Ebenen dazwischen? Was bedeutet es z.B. für das Pioneers-Feld, sich selbst bewusst zu sein? Sich sowohl seiner Mitte als auch seiner Ränder bewusst zu sein und damit auch offen für die eigene transformative Bewegung? Vielleicht findet das schon statt, vielleicht außerhalb meiner Wahrnehmung? Oder ich nehme es wahr, aber nicht bewusst? Zu diesem Thema spüre ich eine große Verbindung.
    Danke für den inspirierenden Beitrag, und ich bin froh, Teil dieses Feldes zu sein. Anfangs am Rand, Inzwischen nicht mehr so am Rand, aber auch nicht in der Mitte…

  5. Vielen Dank für den inspirierenden Beitrag. Mich beruhigen stets hilfreiche und hoffnungsvolle Informationsarchitekturen. Jene von Otto Scharmer zur sozialen Grammatik gehört definitiv dazu für mich. Vielen Dank für die Erinnerung daran und auch die Teilhabe an eurer anregenden Begegnung.

  6. Leider findet momentan keine Differenzierung zwischen den sehr unterschiedlichen Geisteshaltungen statt, die sich hinter der Aussage “Es ist zu spät” verbergen. Einerseits kann es sich um eine Verleugnungsstrategie handeln, welche Schmerz und eine echte auseinandersetzung vermeidet (dies meint O.Scharmer vermutlich). “Es ist zu spät kann aber auch Ergebnis eines tiefgreifenden Trauerprozesses sein (Akzeptanz), der uns erst dazu befähigt, zu sehen was ist. Die große Gefahr besteht mMn darin, nicht zwischen Zwangsoptimimus und Zuversicht zu unterscheiden. “Falsche Hoffnungen halten uns an das System gekettet, dass die Zerstörung der Erde verursacht” (D.Jensen). Die fehlende Differenzierung zwischen diesen beiden Geisteshaltungen führt dazu, dass Menschen, die “Worst-Case- Szenarien” in ihr Bewusstsein integrieren (Deep-Adaptation-Netzwerk, Kollapsologie, klimakollaps.org), abgewertet werden. Die Gestaltung von Zusammenbrüchen ist aber wichtigste Zukunftsaufgabe, um vulnerable Gruppe zu schützen und den Kollaps solidarisch zu gestalten und nicht allein den Faschisten zu überlassen. Der wahre Fatalismus besteht nicht darin, Zusammenbrüche und Worst-Case-Szenarien als unausweichlich zu betrachten, sondern deren Gestaltbarkeit zu leugnen. Leider treffen weder Otto Scharmer, noch ihr Kongress diese Unterscheidung.

    1. Christiane Ebrecht

      Vielen Dank für diesen Denk-Impuls, der auch mir sehr wichtig erscheint!! – Worse Case Szenarien annehmen, wie sie sind, mir aber auch immer meiner Selbstwirksamkeit bewusst zu sein. Mir scheint, dass dieses Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit immer mehr verloren geht, insbesondere bei jüngeren Menschen. Stattdessen versuchen wir auf breiter Front, diese Szenarien abzusichern.

      1. Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit sind ja auch der Heilige Gral der Umwelt-/Klimapsychologie (siehe bsp Vortrag von Lea Dohm hier im Kanal). Ich halte diesen Fokus allerdings für sehr gefährlich. Wichtiger sollte es sein, Menschen dazu zu befähigen, auch schmerzvolle Anteile der Realität wahrnehmen zu können. Eingeschränkte Wahrnehmung führt zwangsläufig zu eingeschränkten Handlungsoptionen. Ich halte es im Gegenteil für eine gesunde Reaktion, wenn (junge) Menschen (zeitweilig) Selbstwirksamkeit verlieren. Der Verlust von Zukunft und einem lebenswerten Planeten ist sicherlich vergleichbar mit dem Verlust eines geliebten Menschen oder der Diagnose einer lebensbedrohenden Erkrankung. Es ist doch total normal, da in einen tiefen Trauerprozess einzutreten, welcher immer mit Rückzugstendenzen verbunden ist. Da unsere Gesellschaft in großen Teilen, die Realität verleugnet, um den Laden weiter am laufen zu halten, fühlen sich junge Menschen dann in ihrem Trauerprozess nicht gesehen, was den Prozess wiederum verlängert und chronifizert. Geteilte Trauer wäre nunmal auch halbe Trauer. Der Fokus auf Handlungsfähigkeit scheint mir daher eher ein neoliberales Narrativ zu sein.

    2. Martin Kirchner

      Lieber Norbert, vielen dank für deinen wertvollen Impuls. Ich versuche schon seit mehreren Jahren ein Interview mit Jem Bendell zu bekommen zu Deep Adaptation – und über konstruktive Zugänge zu “Kollaps” hab ich schon im Interview mit Johannes Heimrath (2017) und Fabian Scheidler (2021) gesprochen und mehrmals mit Meg Wheatley. Ich find das eine wichtige Unterscheidung, die du da hervorhebst – und ja, in dem Blog-Artikel wurde sie nicht erwähnt, obwohl sie sicher sowohl Hemma als auch Otto Scharmer “sieht”…

      1. Lieber Martin, ich habe vor etwa dreieinhalb Jahren mit einigen Klimaaktivist*innen das Klima-Kollaps-Cafe gegründet. Wir sind bis heute vermutlich die einzige (offene) Gruppe im deutschsprachigen Raum, welche sich offen über einen gesellschaftlichen Zusammenbruch aufgrund der multiplen Krisen austauscht. Wir sind auch international vernetzt. Auf
        http://www.klimakollaps.org , unserer Webseite, findest du unser Selbstverständnis etc. Auf http://www.kollapspsychologie.de beschäftige ich mich vorallem mit psychologischen Aspekten von Kollapswahrnehmung und psychischer Verarbeitung. Wir können gern mal telefonieren. LG Norbert

        1. Johaines Ohnfeldt

          DAS IST UNTER DEN PREMISSEN HEUTIGER MEDIAL-LOGIK EIN GEFÄHRLICHER WEG in ein gemeinsames Spüren ohne Ausweg; Das erzeugt eher ein neues kollektives Trauma, welches das alte noch zusätzlich verdeckt, als es uns in unserer inneren Kraft abholt. Der Teil daraus, der dann überreagiert als Auslöser für Wandel anzusehen, halte ich mit nur begrentzten Wandel-Ressourcen eines jedens, maximal für populistisch vl größere Aufmerksamkeit erzeugend, jedoch nicht für wirklich zielführend im Sinne des positiven Beitragens eines jedens, auch wenn ich es als nur ersten Schritt zu mehr Aufmerksamkeit begrüße, bleibt es damit dann oft doch bei Ohnmachts-Protest als Mittel des kleinen Mannes.
          (:Den Ausweg bietet dann schon wirklich mehr Tiefe in der Wahrnehmung, …vom Ding zum DU;)

          – Was hierbei wirklich hilft, ist dass es Dich packt und nicht mehr loslässt, weil es als mehr Bewusstheit in die Welt kommen will! <3

          1. Sie setzen einen Ausweg voraus, den es nicht geben wird. Keine seriöse Studie deutet darauf hin, dass wir die Katastrophen und den damit verbundenen Zivilisationskollaps noch verhindern können. Da die Katastrophen folglich zunehmen werden, werden wir zwangsläufig (auch kollektiv) traumatisiert. Die Frage muss daher sein, ob wir jetzt (in einer noch “sicheren” Welt mit genügend Unterstützungsmöglichkeiten) schon damit beginnen wollen, diese Traumatisierung”, die wir alle bereits spüren (“prätraumatischer Stress” siehe Lise van Susteren) zu verarbeiten oder ob wir unvorbereitet ins Trauma stürzen. Eine seelische Vorbereitung ermöglicht es uns eher, in traumatischen Situation handlungsfähig zu bleiben und schädliche Reaktionsmuster (welche auch kollektiv bereits vorhanden sein können) zu unterbrechen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Großteil der Menschen in Katastrophenzeiten ohne Vorbereiung weniger solidarisch und überlegt handeln werden.

    3. Lieber Norbert!
      Vielen Dank für deinen wichtigen Blickwinkel. Ich bin der Meinung, dass es wiederum die Kombination, aus Bestärkung der Selbstwirksamkeit und der Fähigkeit mit der derzeitigen Weltsituation umgehen zu können, sein sollte. Es sollte immer das Ganze betrachtet und ein holistischer Ansatz verfolgt werden.
      Vielleicht interessiert dich dieses Interview mit Otto Scharmer. https://ethik-heute.org/mehr-auf-das-antworten-was-uns-aus-der-zukunft-entgegen-kommt/
      Dabei wird seine Sichtweise auf deinen Einwand klarer.
      LG Julian

  7. Annegret Körbitz

    Liebe Hemma, liebe Alle! Wow: so klar und in der Essenz zusammengefasst! Ich spüre das als “großen Auftrag” mitzuwirken, dass die Bewusstheit zunimmt – bei mir selbst und von mir initiiert – und wir Räume schaffen, in denen eine Begegnung friedvoll und tief stattfinden kann. Ich bin gerade dankbar, daran mitwirken zu können, zB im aktuellen Kurs Hosting für Kulturwandel. Und auch in meinem beruflichen Feld im Kontext von Führung in Unternehmen. Den Impuls von Otto Scharmer greife ich auf im Sinne von “unser Verständnis von Führung ist im Dauer-Wandel” .. und nun um einen klar formulierten Aspekt reicher. Die Ermutigung tut gut und ich spüre die Sehnsucht nach stärkerem Gemeinsam-Wirken!
    Den Blick auf den größeren Rahmen, den gesamten kollektiven Rahmen mag ich hinzunehmen – da kann ich noch Neuland entdecken. Danke, für deine Anregungen und Fragen, Johanna! Herzlich, Annegret Körbitz

  8. Übereinstimmungen tun gut. In diesem Sinne scheint mir dieser Blog gut zu dem zu passen, was zum Thema “Freiräume schaffen” unter anderem vor einem Monat bei den «Transition News» von mir publiziert worden ist (Link: vhttps://transition-news.org/wie-wir-uns-freiraume-schaffen).

  9. Wenn 74% der Menschen in den G20-Staaten (das sind 60% der Weltbevölkerung!) eine tiefgreifende Transformation unseres ökonomischen Systems wollen, damit wir die großen globalen sozialen und ökologischen Herausforderungen meistern können (» zur G20 Studie) möchte ich folgende Frage in den Raum stellen:

    Wie kann es sein, dass in Österreich Parteien mit wenig Verständnis für eine tiefgreifende Transformation unseres ökonomischen Systems im Aufschwung sind (letzte Landtagswahlergebnisse, Prognosen für kommende Nationalratswahl) und grüne sowie sozialdemokratische Parteien eher abgewählt werden?

  10. Liebe Hemma, danke für deinen Beitrag. Du sprichst mir aus der Seele. Ja, ich sehe es ähnlich. Gerade das Thema Containment schaffen, sichere Räume kreieren, damit Veränderung/Austausch im inneren und äußeren stattfinden kann, ist für mich ein zentrales Thema. Warum? Mein Empfinden ist, das viele Menschen sich von der Erde abgeschnitten haben und den Bezug zum Leben verloren haben, sondern nur funktionieren. Dadurch sich alleine fühlen und es ihnen schwer fällt sich auf das Leben und auch auf die Natur einzulassen. Daher ist es wichtig Räume/Netzwerke zu schaffen, in denen wir wieder Vertrauen, Wertschätzung, Zugehörigkeit und Geborgenheit erfahren/erleben, wieder mutig werden und uns für die Erde einsetzen. Ja, es geht um vertrauensvolle Räume, um ein vertrauensvolles Miteinander, dann entsteht Stärke, Kraft und der Wandel ist möglich.

  11. Danke für den mutmachenden und spannenden Beitrag liebe Hemma! Meine Gedanken dazu: Wenn wir mehr “niederschwellige Begegnungsräume” schaffen wollen und noch mehr Menschen mit diesen Initiativen und alternativen Konzepten (wie Theory U) erreichen wollen, braucht es auch eine einfachere, klarere Sprache jenseits der akademischen Bubbles und hochreflektierter Diskurse. Allein Otto Scharmer’s Begrifflichkeiten, die hier angeführt sind, sind alle englisch und gehören für mich immer auch mit ins Deutsche übersetzt! Ich verstehe sie, aber nicht alle sind des Englischen so mächtig. Wie wollen wir sonst genug Menschen hier erreichen,um eine “kritische Masse” zu werden, die wirklich etwas bewegen kann? Danke für Dein/Euer Engagement und die vielen Initiativen, die zusammenwachsen dürfen…

  12. Jürgen Strauch

    Hallo erstmal, interessanter Blogartikel sowie noch interessantere Kommentare.
    Das unser Planet und die Umwelt in einer Transformation steckt, steh außer Frage, und dass dies auch von vielen wahrgenommen wird, ist auch klar. Die Verarbeitung dieser Wahrnehmungen werden, vom wem auch immer, gestört( ein Schelm wer da böses denkt. Was bin ich wieder ein Schelm heute) Das infrage stellen der vorherrschenden Systeme, bleib wohl aus, da der Focus, einiger wenigen, auf dem Profit fixiert ist (bleibt?) Und das Denken der Gesellschaft wird darauf ausgerichtet, denn in den Industrienationen wird eine strikte Erregungsbewirtschaftung betrieben. Eigentlich sollte bei allem Tun auf unserem Planeten der Mensch im Vordergrund stehen. Meines Erachtens vergeuden ein Großteil der Menschen (welche irgendwie in Wohlstand und dergleichen leben) die meiste Energie damit, das diese vermeintlich Mitdenkenden ( ) darüber diskutieren, was, warum NICHT funktioniert. Und viele wollen es dann auch noch viel besser wissen als andere. Ein hoher Verlust an Energie, welche besser investiert (wohl das optimalste Invest überhaupt) werden könnte, um Lösungen finden zu wollen.
    Ein Umdenken erfordert Veränderung, und dieses kann eigentlich nur bei dem Individuum selbst geschehen. Also jedes verändern geschieht im eigenen Kopf. So kann die jeweilige Sichtweise oder ein Standpunkt neu gewählt werden. Interessant, was dann rauskommen könnte, wenn denn die Schwarmintiligenz sich zu positiveren Entwicklungen entschließt?
    Nur ein WIR kann die anstehenden Herausforderungen unseres Planeten lösen. Ansonsten müssen wir damit leben lernen, wie sich unser Planet verändert. Und das wir nicht spaßig.

  13. Liebe Pioneers,
    immer wieder gerne lese ich eure Newsletter und nähre mich an euren Gedanken und Worten zur “Lage der Welt” und zu dem, was auch ich innerlich spüre, was dran ist.
    Besonders freue ich mich gerade darüber, dass Otto Scharmer nun so passende Wort auch zu unserem regionalen Engagement ausspricht. Ich denke wir werden ihn am kommenden Samstag bei unserem Klimakongress zitieren.
    Weiterhin viel Kraft und gute Gesundheit, samt Freude bei eurem Wirken.
    Herzliche Grüße,
    Markus (aus dem kreativen Rems-Murr-Kreis)

  14. Das Leugnen der planetaren Krise wird über kurz oder lang zu einer Panik führen, welche die ganze Gesellschaft in ihrer Glaubwürdigkeit “erschüttert”. Vielen Menschen wird dann die Unfähigkeit von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft bewusst, die nicht angemessen auf die planetare Krise reagiert/agiert haben. Für jeden Einzelnen von uns ist die “innere” Aufrichtigkeit entscheidend. Eine Sinnerfüllung des Lebens jenseits vom Konsumdrang. Nicht an der Krise verzweifeln, Würde bewahren, unabhängig von einer individuellen “Wirksamkeit”. Ein neues Bewusstsein von einem würdevollen Leben in der Krise entwickeln, dabei offen bleiben für alle Perspektiven.

  15. kann von euch jemand einen Videovortrag/ Film empfehlen, der diese Thematiken und Sichtweisen gut rüberbringt. Ich suche nach Inspiration für eine FSJ Gruppe (:

  16. Ja, wir organisieren uns am Rande, am Feuer. Eine kleine Gruppe in einem kleinen Dorf. Wir teilen wöchentlich unser Inneres und es hat schon viel bewirkt. Bloss das ehrliche erzählen und das offene zuhören. Dies ist überall möglich.
    Wir (mein Partner und ich) halten auch einen paradiesischen Ort, wo sich Menschen begegnen können und Heilung passieren kann.
    Ich träume auch von mehr Vernetzung. Überall gibt es diese kleinen und größeren Lebenszellen. Sie sind da und ihre Schwinungen gehen in Resonanz. Für mich manchmal kaum spürbar, aber ich vertraue den Gesetzgebigkeiten der Natur. Sie wirken zusammen und werden sich finden, komme was wolle.
    Auch wenn morgen die Welt untergeht, pflanze ich heute einen Baum.

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